Samstag, 30. Juni 2012

Wir waren die stärksten der Parteien


Die ML Parteien produzierten eine Vielfalt an Zeitungen, für jede 
Zielgruppe möglichst eine eigene. Hier der Schulkampf von 1975 
des Kommunistischen Oberschülerverbandes, einer 
Unterorganisation der KPD/AO, das Kopfbanner ist als 
Fahnenbannertypo ausgeführt.
 Beschlußdemokratie, Versammlungskommunismus und ein Bad im vereisten Grunewaldsee - Bericht einer Gruppe aus der KHG

Eintritt


Wir lernten uns in einem Schulungskurs der KHG kennen. In diesem Schulungskurs sollten an einer Mitarbeit in der Organisation interessierten Leuten die Grundprinzipien und wichtigsten theoretischen Vorstellungen des KBW und der KHG beigebracht werden. Wir merkten bald, daß wir eine ähnliche Vergangenheit, ähnliche Ansprüche an die Schulung und die Organisation hatten und ähnliche Vorstellungen darüber, was wir im KBW machen wollten.


Dies ergab sich aus der Tatsache, daß wir 1967/68 die erste Phase unserer Politisierung in der Schüler- und Studentenbewegung erlebt hatten und vor dem Eintritt in die KHG alle schon einmal Mitglieder anderer ML-Gruppen waren. Wir kannten die theoretischen Publikationen der KBW-Vorläufer und fanden die Bestrebungen unterstützenswert, daß sich linke Gruppen mit ähnlichen Vorstellungen einigen wollten, ohne gleich mit dem Anspruch aufzutreten, die Partei zu sein.


Die Sammlungsbewegung für eine später eventuell zu gründende kommunistische Partei schien eine offene Diskussion politischer Anschauungen zu garantieren und auch die Möglichkeit, eigene Vorstellungen einzubringen und umzusetzen. Besonders die damals in vielen KBW/NRF-Veröffentlichungen geäußerten Ideen und Prinzipien wie: Förderung der Selbständigkeit der Unterdrückten und Ausgebeuteten, ihre Interessen wahrzunehmen, Eintreten für die Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Institutionen und Basisdemokratie, Erstreben gemeinsamer Aktionen mit allen fortschrittlichen Kräften und die noch offene Diskussion ob Kader- oder Massenpartei ließen uns hoffen, daß eine vernünftige Organisation entstehen könnte.


Wir fühlten uns bald als Gruppe mit politischen Ansichten und Vorhaben, die wir gegen die schon etablierten Meinungen und Praktiken in der Organisation durchsetzen wollten. Dies hielten wir für möglich, weil diese gerade erst ihren Formierungsprozess begonnen hatte. Allein, als Einzelner wäre wohl keiner von uns eingetreten. Wie wenig isolierte Kritik auszurichten vermochte, wußten wir aus den Erfahrungen in anderen Organisationen. Als Gruppe von Leuten, die sich gegenseitig unterstützen konnten, hofften wir genügend stark zu sein, um entweder bestimmte Positionen mit Erfolg zu vertreten oder falls es schiefgehen sollte, den Absprung ohne große persönliche Verluste zu schaffen. - Neben den drei Verfassern dieses Berichtes machten noch vier andere Typen in der Schulungsgruppe mit. Von diesen sieben sind sechs nach etwa 1 1/2-jähriger Mitgliedschaft wieder aus der KHG ausgetreten.


Obwohl wir uns beim Eintritt in die KHG als Gruppe gefühlt und verhalten haben, durchliefen wir den Prozess der teilweisen Identifikation mit dem KBW wie auch die zunehmende Entfremdung und Ablösung weitgehend individuell. Das zeigt sich am augenscheinlichsten daran, daß wir, trotz häufigen gemeinsamen Diskussionen, ob's noch einen Sinn hätte in der KHG zu bleiben und wenn ja, unter welchen Bedingungen, schließlich individuell ausgetreten sind. Deshalb sind im weiteren oft persönliche Erlebnisse und Reflektionen nebeneinandergestellt, die jeder für sich machte, die wir aber für symptomatisch für unsere gemeinsame Situation halten.


Wir hatten von Anfang an zum KBW ein kritisches, mehr praktisch-instrumentales Verhältnis. Dennoch ist es interessant im Nachhinein festzustellen, wie weit wir von der Organisation vereinnahmt worden sind, wie weit wir trotz kritischer Distanz ein Stück Identifikation entwickelt und ihre Verhaltensvorschriften übernommen haben. Sonst hätten wir kaum Sachen mitgemacht , die uns heute unsinnig erscheinen, weil sie schlicht uneffektiv und nutzlos sind für die Entwicklung einer sozialistischen Bewegung.


Vielleicht scheint unser Optimismus, mit dem wir in die KHG eintraten, nicht recht verständlich. Zumal als von ML-Erfahrungen gebrannte Kinder hätten wir eigentlich wissen müssen, daß... Wir wußten nicht.


Zwar hatten wir Zweifel, ob der KBW/KHG nicht doch nur wieder eine Sekte wie gehabt werden würde. Diskussionen mit Mitgliedern bestärkten unsere Zweifel. Auch im Programm fanden wir schon einige dogmatische Sprüche und irrige Forderungen enthalten, aber im großen Ganzen stimmte es mit unserer Vorstellung von Marxismus-Leninismus überein.


Einige von uns warfen zwar die Frage auf, ob es überhaupt Sinn hätte, der KHG beizutreten. Ein Teil war entschieden gegen einen Eintritt. Der andere Teil argumentierte, wenn unsere Kritik ernsthaft und konstruktiv sein will, müssen wir auch ändernd eingreifen, was uns nur der Mitgliederstatus mit allen Rechten und Pflichten ermöglichte.


An diesem Punkt gab es auch die ersten Auseinandersetzungen zwischen uns und der Organisation. Wir wollten für die ganze Organisation den Kandidatenstatus abgeschafft sehen, da wir schon erlebt hatten, wie Kooptations- und Selektionsmechanismen dazu beitrugen, aus einer politischen Gruppe eine abgeschlossene Sekte werden zu lassen. Daß wir uns mit dieser Forderung - vorübergehend - durchsetzten, bestätigte unsere Hoffnungen, es würde möglich sein, in der KHG andere Meinungen als die etablierten zu vertreten und auch durchzusetzen.


Der zwangsläufig wirkenden Tendenz der Organisation, unser praktisches Handeln wie unser politisches Denken mehr und mehr auch gegen unsere ursprünglichen Absichten zu vereinnahmen und zu deformieren, kam dabei zugute, daß wir allenfalls eine eigene idealistische ML-Konzeption entwickelt hatten, die mit Vorstellungen durchdrungen war, die wir in ganz anderen Bereichen politischer Theorie und Praxis gewonnen hatten. So hielten wir uns in dem neuen Bereich an die uns vorgesetzten Doktrinen und versuchten zunächst nur, in unserem Sinne an ihnen rumzubasteln. Erst im Ablösungsprozeß von der Organisation, worunter wir auch den gedanklichen Auflösungsprozeß verstehen, der uns zwei Jahre dort mitarbeiten ließ, wurde uns die zentrale Bedeutung der Befangenheit in Vorstellungen klar, die zu einer allein seligmachenden Welterklärung zusammengekittet wurden.


Im folgenden wollen wir einige Stationen des fortschreitenden Prozesses der Vereinnahmung von Denken und Handeln der Mitglieder durch die Organisation schildern.


KVZ-Verkauf


Die KVZ (Kommunistische Volkszeitung) ist das Zentralorgan des KBW. Sie hat in der Vereinigung der regionalen Zirkel und Gruppen zum KBW eine wichtige Rolle gespielt. Heute ist der KVZ-Verkauf zum Hauptinstrument der politischen Arbeit geworden, mit dem erklärten Ziel, die reformistisch orientierte Arbeiterklasse durch Agitation und Propaganda für den Kommunismus zu gewinnen. Studenten sollen durch den KVZ-Verkauf in unmittelbaren Kontakt zu den Volksmassen treten und auf diesem Wege in die Volkskämpfe mit einbezogen werden.


Wir verkauften wöchentlich einmal im Stadtteil und einmal vor einem Betrieb, in dem eine Betriebszelle des KBW arbeiten sollte, die unsere Grundeinheit zu unterstützen hatte. Die Notwendigkeit des Verkaufs der Zeitung war klar. KVZ, Zentralorgan, Propagierung der richtigen Ansicht,Vorschläge für den konsequenten Kampf um Forderungen, die Ausdruck der objektiven Interessen der Arbeiterklasse und des Volkes sind usw. usw. Aus der Sicht des einzelnen KVZ-Verkäufers sieht das aber so aus, wie es einer von uns aus eigener Erfahrung schildert:


So stand ich also um 5.30 Uhr vor dem Betrieb. Nicht direkt davor, die Arbeiter und Angestellten sollten ja nicht beim Kauf vom Pförtner gesehen werden. Also stand ich ungefähr auf der Mitte zwischen Betrieb und Bahnhof. Im Hinterkopf das letzte Verkäufertruppgespräch, auf dem nochmals die entscheidende Bedeutung der Aufklärung über diese und jene Maßnahme des bürgerlichen Staatsapparats, die Betrugsmanöver der DGB-Bonzen und ähnliches betont worden war. Auch, daß man offensiv auftreten müsse, kühn voranschreiten, vor allem nicht nuscheln, wenn man die Parolen ruft. Die 10 Zeitungen auf dem Unterarm mit der Hand von unten umfassend, mit der anderen nochmals zurecht gestaucht, damit der Kopf der Zeitung und vielleicht noch die Hauptüberschrift gut erkennbar ist. Trotzdem dieses ungeheuer flaue Gefühl im Magen.


Und schon sah ich eine Gruppe Menschen auf mich zu kommen. Ich bemerkte gar nicht mehr die morgendliche Kühle, die Spannung stieg. Meine Gedanken waren schon weiter: Was soll ich antworten, wenn einer der Arbeiter/innen oder Angestellten mich anspricht? Wie werde ich es angehen, beim ersten Zeitungskauf die Käufer noch auf wichtige Artikel und ihre Bedeutung hinzuweisen? In Gedanken legte ich mir schon zurecht, wie ich die Käufer/innen zu unseren Lesertreffs einladen würde. War die Gruppe noch 8 - 5 m von mir entfernt, erhob ich meine Stimme zum Ausrufen der Parolen. Der entscheidende Augenblick war gekommen.


Es ist schwer vorstellbar, wie schnell 20 - 30 Menschen an einem vorüber sind, wenn sie frühmorgens zur Arbeit gehen. Die an mir Vorbeirasenden dürften vielleicht zwei Worte, wenn überhaupt irgendwas von meiner Parole mitbekommen haben. Nachdem ich mir nach den ersten Malen noch den Kopf zerbrach: sollte ich mich besser placieren?, früher mit dem Ausrufen beginnen?, kurze Strecken mitlaufen?, kam ich doch schnell auf die Idee, daß es an etwas anderem liegen muß, als daß man es mit einem technischen Herangehen lösen könnte. Was ich da rief und anbot waren nicht ihre Probleme, es waren nicht die Angelegenheiten, die sie beschäftigten. Bald war ich mir der Sinnlosigkeit eines solchen Vorhabens voll bewußt. Doch ich ging immer wieder hin. Manchmal als einziger, weil gerade diejenigen, die in der Grundeinheit für mehrmaliges Verkaufen in der Woche plädiert hatten, von ihrer ideologischen Klarheit so besoffen waren, daß sie morgens verschliefen und nicht kamen.


Vielleicht kam bei mir noch ein romantischer Reiz hinzu. Die Bilder, die tief in meiner Erinnerung stecken, aus den russischen Revolutionsfilmen, die ich als Schüler statt Hausaufgaben zu machen immer um 13.30 im DDR-Fernsehen gesehen hatte. Der aufrechte Bolschewik, der in aller Herrgottsfrühe die illegal gedruckten Flugblätter verteilt. Es kostet jedesmal neue Überwindung, aber wenn ich von der Frage nach irgendeinem Sinn meines Tuns absah, blieb immer noch ein Gefühl der Selbstbestätigung, ein bißchen über den eigenen Schatten gesprungen zu sein, seinem den anderen vorgehaltenen Anspruch selbst entsprochen zu haben. Im Nachhinein ist mir natürlich klar, daß ich genausogut im Winter im Grunewaldsee baden gehen könnte. Auf dieser Ebene etwa liegt ein solcher Akt der Selbstüberwindung.


Am Tag darauf hatten wir immer Verkäufertruppbesprechung. Ab und zu mit einem Mitglied der Betriebszelle. In unserem Falle war es immer die gleiche Genossin, da unsere Betriebszelle wohl nur ein Mitglied hatte - aber richtig durchgestiegen sind wir da nie, denn die Politik der Betriebszelle wurde uns nur andeutungsweise oder gar nicht erklärt. Einer nackten Frau kann man auch nicht in die Tasche fassen. Bei solchen Sitzungen unterhielten wir uns ernsthaft zwei Stunden über die Strategie zur Steigerung des Verkaufs, oder besser gesagt: zur Aufnahme des Verkaufs. Denn die drei abgesetzten Exemplare waren Verkäufe an unmittelbare Sympathisanten, die sich die Zeitung auch woanders hätten holen können. Wurde einmal die Vergeblichkeit allen noch so offensiven Verkaufseinsatzes angesprochen, verwies die Anleitungsgenossin auf die zu verbessernde Betriebsarbeit der Zeile, dann würde sich auch der Verkauf vor dem Tor verbessern - als ob die Betriebsarbeit zur Erhöhung der Verkaufszahlen diente! Das letzte Argument blieb immer der Satz von der allgemeinen Notwendigkeit von Agitation und Propaganda und von der erforderlichen Präsens der Kommunisten an allen Orten.


Eine weitere Erklärung für mein rastloses Durchhalten war die empfundene Solidarität und Verpflichtung gegenüber den anderen Genossen/innen. Man übernahm Aufgaben und führte sie durch, weil man wußte, daß die anderen vielleicht genausowenig Lust hatten, oder genausowenig Sinn darin sahen und es trotzdem taten. Und da wir uns das nicht gegenseitig offen eingestanden, war der Weg der kollektiven Gegenwehr versperrt. So ging ich immer wieder hin, so sinnlos es auch war. Nur innerhalb des organisatorischen Zusammenhangs erhält es einen Sinn. Ein gutes Beispiel, wie im Laufe der Zeit die Eigenidentität durch die Identität mit der Organisation ersetzt wird, ja notwendig wird, um nicht an sich selbst zu verzweifeln. Das erschwert dem Einzelnen das Brechen mit der Organisation ganz ungemein, denn das bedeutet zunächst Identitätsverlust, das Eingeständnis, monate- oder jahrelang Sinnlosigkeiten betrieben zu haben.


Der Sprachcode


Eine wichtige Funktion bei der Abkapselung der Mitglieder de s KBW von der Umwelt, von Kontakten und Beziehungen mit anderen Menschen hatte die Organisationssprache. Man mußte eine bestimmte Sprache sprechen, gewisse Worte, Kürzel und Redewendungen benutzen. Der Sprachcode wurde oben festgelegt - die zentralen Publikationen (Zeitung, Broschüren und Erlasse der Leitung) waren in einem Sprachstil gehalten, der zwar einzelnen Personen der Führung zuzuordnen ist und deren Art des persönlichen Ausdrucks sein mag, sich aber doch unverkennbar an"geheiligten Vorbildern" orientiert, etwa an Lenin oder am katastrophalen Deutsch der Peking Rundschau.


Den Sprachstil dieser zentralen Publikationen nahm sich der überwiegende Teil der Genossen zum Vorbild. Anstatt in ihrer bisherigen Alltags- und Umgangssprache zu reden und zu schreiben übernahmen sie Redewendungen und Diktion des Vorbildes. So hatte ein führendes Mitglied der Organisation zur Bekräftigung von irgendeiner gewichtigen Äußerung die Sprechblase "und dann ist das gut und nicht schlecht" gebraucht. Das nichtssagende Sätzlein machte schnell die Runde. Kaum eine Beschlußvorlage, kein längerer Artikel eines Fachbereichsinfos konnte auf die Verwendung der Phrase verzichten. Manche Genossen konnten "und dann oder: und deshalb ist das gut und nicht schlecht" mehrmals während einer Sitzung zur Unterstreichung ihrer Ansichten verwenden. Andere benutzten es mit liebevoller Ironie; ihnen war klar, daß es sich um die nichtssagende rhetorische Wendung eines Organisations-Führers handelte und in der leicht ironischen Verwendung schwang jenes Quäntchen Kritik mit, das man sich offen nicht leisten konnte. Aber viele Genossen benutzten die Redewendung mit tiefem Ernst, bis sie durch eine neue Sprachschöpfung eines ZK-Mitglieds abgelöst wurde.


Besonders auffallend war die Organisations-Einheitssprache immer bei geschriebenen Texten. Das lag sicher daran, daß man sich, wenn man einen Artikel schrieb, zuerst die zentralen Veröffentlichungen zu dem Thema nebst alten Flugblättern u.ä. durchlas und das dann paraphrasierend in einen eigenen Text umarbeitete bzw. mit den entsprechenden Einfügungen für das Zielpublikum (Termin und Ort einer Veranstaltung, Demonstration) versah.


Nach einer gewissen Zeit als KBW-Mitglied hörte sich auch die gesprochene Rede vieler Genossen an, als würden sie eine Broschüre oder ein Flugblatt der Organisation auswendig aufsagen. Angefangen hat diese Sprachdeformation meistens bei der Agitation in der Öffentlichkeit, beim Flugblattverteilen und Zeitungsverkaufen. Denn die persönliche Identifikation mit dem Agitationsziel war fast immer oberflächlich. Zwar hatte einem die sogenannte "politische Bedeutung des Kampfes" durch Artikel aus dem Zentralorgan und Diskussionen in der Grundeinheit klar zu sein, außer diesen Richtlinien hatte man aber meist kaum eine Ahnung von den Problemen und Konflikten, über die man agitierte, geschweige denn war man persönliche davon betroffen. Deshalb leierte die Agitatorin oder der Agitator einfach die paar Sätze runter, die sie/er sich gemerkt hatte, natürlich mit dem entsprechenden Erfolg. Für die Erarbeitung von fundierteren Kenntnissen über einen bestimmten Problemkreis fehlte schlicht die Zeit. Genauere Kenntnisse zu haben, eine eigene Meinung zu äußern war als "Spezialistentum" verpönt. Der richtige Kommunist hatte umfassend gebildet zu sein und überall die vorantreibenden Vorschläge zu machen - in dem Sinne, daß er jederzeit die entsprechende Einschätzung des Zentralorgans wiedergeben konnte.


Viele Genossen lasen kaum etwas außer den eigenen Publikationen, den "Klassikern des ML" und der fürs Studium absolut unentbehrlichen Literatur. Wenn sie sich mal anders bildeten, lasen sie "proletarische Romane" aus der Weimarer Zeit, sahen sich aufbauende Filme aus der VR-China oder ähnliches an. Dieser Mangel an Auseinandersetzung mit "bürgerlicher Literatur", mit "unpolitischen" Filmen, die Tatsache, daß die meisten Genossen nie in Popkonzerte gingen (Popmusik war laut KVZ bloß ein Mittel der Bourgeoisie, die Arbeiterjugendlichen vermittels dekadenter Kultur vom Kampf gegen Ausbeutung und Staat abzuhalten), dieses ständige Eingeschlossenbleiben im keimfreien Milieu des von der ML-Ideologie desinfizierten Dunstkreises der Organisation, trug wesentlich bei der Herausbildung eines Sprachcodes, der mit seinen Begriffen, seinen apodiktischen Kategorien gar nicht mehr zu ließ, differenzierte Fragen zu stellen bzw. Erklärungen realer Probleme zu suchen. Eine spontane Neugier und Aufgeschlossenheit anderen Ansichten, neuen gesellschaftswissenschaftlichen Theorien gegenüber mußte damit verkümmern. Die Wirklichkeit war generell durch die Brille und nach dem Interpretationsmuster der von der KBW-Führung legalisierten ML-Glaubenssätze zu betrachten. Die eigene Erfahrung zählte nichts.


Mit der Zeit wurde der Sprachcode zur Umgangssprache jedes Mitglieds. Es verlernte, so zu sprechen, daß Nicht-Mitglieder es noch verstanden. Und es verlernte, von anderen Menschen geäußerte, nicht im Code gehaltene Aussagen zu verstehen. Alles was nicht Code war wurde von ihm als falsch oder "bürgerlich" abgelehnt. Wenn man mit anderen nicht mehr diskutieren kann, diskutiert man nicht mehr mit ihnen. Weil man sich nicht mehr mit anderen auseinandersetzt, verliert man den Bezug zur Realität.


Beschlußdemokratie


Die Ortsleitung hatte beschlossen, man müsse das Programm der Arbeiterklasse zur Wahl stellen, an den Landtagswahlen teilnehmen. Obwohl von Haustür zu Haustür gegangen wurde, gelang es bis kurz vor Weihnachten nicht, auch nur für einen Kandidaten die gesetzlich erforderliche Unterschriftenanzahl zusammenzubekommen. Auf einer schnell einberufenen Mitgliederversammlung teilte der Zentrale Ausschuß der KHG mit, die Weihnachtsferien würden für alle Mitglieder gestrichen, wir hätten bis Anfang Januar 75 die erforderlichen Unterschriften im Einsatz rund um die Uhr zusammenzusuchen.


Viele sonst sehr linientreue Genossinnen und Genossen murrten und sprachen gegen diesen Beschluß. Ein großer Teil der KHG-Mitglieder wohnte nicht in der Stadt und viele wollten über Weihnachten nach Hause fahren oder für einige Tage verreisen. Das war die Situation, die einer von uns so erlebt hat:


Ich hatte mir überlegt, was ich auf der Mitgliederversammlung sagen wollte. Für mich war die kurzfristige Ansetzung der Unterschriftensammlung ein weiterer Beweis für die organisatorische Unfähigkeit der Ortsleitung. Zudem zeigten gerade die Schwierigkeiten, die erforderlichen Unterschriften zusammenzubekommen, wie mangelhaft die Organisation noch verankert war - ein Hinweis darauf, wie schlecht der KBW bei den Wahlen abschneiden würde. Beide Argumente bestärkten mich in meiner schon früher geäußerten Ansicht, eine Wahlteilnahme sei für eine so schwache Gruppe ohnehin nicht sinnvoll.


Abgesehen davon war ich entschlossen wegzufahren. Ich hatte seit einem Monat eine neue Beziehung und war sehr verliebt, wir wollten zusammen wegfahren. Ich erlaubte mir zwar manchmal auf Zellensitzungen, mit persönlichen Bedürfnissen zu argumentieren, stieß damit aber regelmäßig auf die Ablehnung der Genossen, die die "Politik an erste Stelle" setzten. Auf einer Mitgliederversammlung wagte ich das nicht, hier zählten nur politische Gründe und verliebt zu sein war kein politischer Grund. Ich konnte mir das Unverständnis und die Kommentare der linientreuen Genossen vorstellen: kleinbürgerliches Individuum, das persönliche Bedürfnisse über die Notwendigkeiten des Klassenkampfs stellt. Mich vor vielen Leuten bloßstellen konnte ich nicht, ich hatte schon genug Schwierigkeiten, vor einer unüberblickbar großen Menge Menschen überhaupt zu reden.


Als ich meine kurzen Argumente den etwa 200 versammelten Genossinnen und Genossen vorbrachte, hatte ich das Gefühl, überhaupt nicht gehört zu werden. Ich war kein guter Redner, meine Argumente gingen unter.


Der nach mir sprechende Genosse des ZA malte die Alternative aus zwischen "kleinbürgerlichem Zurückweichlertum" oder "Erfüllen der Notwendigkeiten, die der Klassenkampf an die Kommunisten stellt". Weil das ZK des KBW und die Ortsleitung so beschlossen hatten, war die Wahlbeteiligung und damit das Sammeln der Unterschriften eine Notwendigkeit des Klassenkampfs.


Dann sprach ein eigens hierfür angereister Mann des ZK des KBW. Komischerweise beeindruckte mich, was er sagte. Vielleicht lag das daran, daß er der Ortsleitung Vorwürfe machte wegen der schluderigen Vorbereitung. Solche Kritik aus dem Mund eines Typs, dem die Genossen zuhörten, fand ich schon mal gut. Er zeigte auch Verständnis für die Sorgen der Genossen, die wegfahren wollten, erwähnte auch junge Genossen, die sich in verständlichem Konflikt mit ihren bürgerlichen Familienbanden" befänden. Er appellierte an unser Bewußtsein als Kommunisten, die politische Lage erfordere, unsere persönlichen Bedürfnisse hintanzusetzen. Er appellierte an unser Solidaritätsgefühl mit den Genossen der KBW-Gruppe, die alle hierblieben und Unterschriften sammelten. Und an unser Solidaritätsgefühl mit den politisch hochbewußten Genossen der KHG, die sich schon ebenso entschieden hätten. Großer Applaus.


Obwohl er mit keinem Satz darauf eingegangen war, ob die Wahlbeteiligung überhaupt sinnvoll war, hatte er auch mich indem Moment fast überzeugt, es sei vielleicht doch richtig hierzubleiben und Unterschriften zu sammeln. Irgendwie fand ich es nun auch unsolidarisch, wenn ich einfach wegfahren würde, während die anderen alle hierblieben. Eine große Mehrheit stimmte für hierbleiben. Ich enthielt mich der Stimme und fuhr mit meiner Freundin weg. Dem KBW brachte die Wahlbeteiligung nebst etwa 0,1 % der Stimmen, etliche Entlassungen und Berufsverbote für die kandidierenden Genossen.


Veranstaltungen


Es wird zum soundsovielten Male eine Veranstaltung zu einem beliebigen Thema angesetzt, Referate werden ausgearbeitet und vordiskutiert, Flugblätter verfaßt, zu Tausenden gedruckt und verteilt, Plakate entworfen, hergestellt und geklebt, Räume ausfindig gemacht, angemietet und ausgeschmückt und vielleicht sogar noch im Seminar/Betrieb für den Besuch dieser Veranstaltung geworben. Insgesamt eine Wahnsinnsarbeit, um möglichst viele Leute für die Veranstaltung zu agitieren. Am Abend der Veranstaltung muß man feststellen, daß man außerhalb der eigenen Organisation niemanden mobilisiert hat. Daß ein paar hundert Mitglieder der Organisation erschienen sind, ist nur dem Beschluß zu verdanken, der von jedem einzelnen verlangt, sämtliche Veranstaltungen der Organisation zu besuchen. Damit wird für ein solches Ritual wenigstens der äußere Schein von Sinnhaftigkeit erzeugt. Dieser Beschluß schreibt auch vor, dem Referenten und der Diskussion aufmerksam zuzuhören, die Veranstaltung nicht etwa vorzeitig zu verlassen (vor dem Absingen der Internationale) oder zwischendurch mit Bekannten zu quatschen, hin- und herzurennen, Terminverlagerungen vorzunehmen, oder gar Mitgliederbeiträge einzutreiben. Das war in der Vergangenheit allzu häufig vorgekommen und hatte nach Ansicht der Leitung die wenigen nicht der Organisation oder konkurrierender Sekten angehörigen Individuen vorzeitig von der Veranstaltung vertrieben.


Nicht etwa, daß man sich in der Organisation danach gefragt hätte, ob vielleicht das Thema oder der Anlaß der Veranstaltung ungeeignet gewesen ist. Ob es womöglich niemanden interessiert, "was die Kommunisten dieser Stadt" dazu zu sagen haben und daraus entsprechende Konsequenzen zieht. Nein, die objektive Notwendigkeit gerade an diesem "Punkt" Agitation und Propaganda zu entfalten, leitet sich ja aus der Analyse der bestehenden Weltlage ab, wie man sie erst jüngst von J. S. in der KVZ lesen konnte.


Die "Diskussion" in der Grundeinheit spitzt sich dann auch ziemlich schnell darauf zu, daß die Veranstaltung nicht offensiv genug propagiert worden ist, nicht genug Flugblätter mit ideologisch klarerem Inhalt gemacht wurden usw. Und, entscheidendes Argument: daß bestimmte Genossen entweder "zurückweichlerisch" im Seminar aufgetreten sind und die Veranstaltung nicht angesagt haben, beim Zeitungsverkauf nicht andauernd laut gerufen haben oder gar nicht erst zur Veranstaltung gekommen sind. Das sei Ausdruck von kleinbürgerlicher Disziplinlosigkeit, die nur in harter politischer und ideologischer Erziehungsarbeit überwunden werden könne. Nur rückhaltlose "Kritik und Selbstkritik" könne ihnen die proletarische Anschauung durch harte und geduldige Arbeit in "schwieriger" Situation vermitteln, in denen die Volksmassen "noch" den "Spaltungs-" und "Betrugsmanövern" der Bourgeoisie und ihrer "Lakaien" aufsitzen. Mit knapper Mehrheit wurde eine Beschlußvorlage verabschiedet, die die Leitung kritisiert, die Veranstaltung zu kurzfristig angesetzt zu haben.


Nach unserem Austritt kommen uns solche Situationen unwirklich vor. Was hat uns und was bringt heute noch so viele dazu, die Absurdität ihres Handelns überhaupt nur so begrenzt wahrzunehmen, welches sind die Mechanismen, die solche erlebten Situationen in einer Weise uminterpretieren, die eine radikale Kritik an der Organisation unmöglich machten? Wichtig für die Erklärung ist sicherlich die totale zeitliche, psychische und physische Beanspruchung des einzelnen durch die Organisation, die sich als relative Isolierung von seinem eigentlichen und ursprünglichen Lebenszusammenhang auswirkt. Nur durch den totalen Einsatz der Genossen kann die Organisation ihre nicht nur zahlenmäßige Schwäche notdürftig ausgleichen. Nur dadurch kann sie ihre "Politik" aufrecht erhalten, die verlangt, überall dort "einzugreifen", wo die Volksmassen in "Bewegung kommen" oder zu geraten scheinen. "Eingreifen" heißt dann, diese vermeintliche Bewegung mit Agitation und Propaganda zu überschütten und zu versuchen, sie in eine Richtung gegen den Staat und den Kapitalismus insgesamt zu bewegen. Diese Politik verlangt nicht nur ständige Einsätze der Genossen, sondern auch einen umfangreichen technischen Apparat, der den immensen Ausstoß an Papier und die Koordinierung der verschiedenen Tätigkeiten erst ermöglicht.


Arbeitsbelastung


Was das für das einzelne Mitglied dieser Organisation heißt, können wir einmal aus eigener Erfahrung aufzählen:


An der Uni: 1 mal wöchentlich 4 - 5 Stunden Grundeinheitsplenum, dazu die Zeit der Vor- und Nachbereitung (Texte, Zeitung lesen, Protokoll). 1 mal wöchentlich 2- bis 3stündige Schulung. Zusätzlich eine Unzahl von Sonderterminen zur Diskussion von diversen Rechenschaftsberichten des ZK bis zur GE-Leitung.


Tagesdienste: in der Uni Büchertisch machen bzw. Anwesenheit im Raum der Organisation zwecks Entgegennahme von Flugblättern und neuer Direktiven, Ausführen technischer Arbeiten (wöchentlich 1 mal 10 - 14 Uhr) Zeitungsverkauf, Flugblätter im Institut und vor der Mensa verkaufen bzw. verteilen. Übernahme einer speziellen Funktion: "info"-Herstellung, "Botendienst", Druckereidienst.


Im Stadtteil: 1 mal pro Woche einen Nachmittag lang Zeitungsverkauf, Flugblattverteilen, Plakate kleben; Sitzung mit der zuständigen Stadtteilzelle.


Vor dem Betrieb: Zeitungsverkauf mindestens 1 mal die Woche, morgens 2 -3 Stunden; abends oder darauffolgenden tags: Sitzung mit der "Zelle", zusätzlich Verteilen von Flugblättern in unregelmäßigen Abständen. Ortsgruppe: Bürodienst, d. h. einen halben Tag im Büro der Ortsgruppe, sämtliche anfallenden Tätigkeiten erledigen; Nachtdienst, d. h. von 18.00 bis 5.00 das Gleiche: Tippen der Mitgliederbriefe, drucken, legen, zusammenheften. Aufräumen etc. 14-täglich.


Sonstiges: Pflicht für jeden, in einem der zahlreichen Komitees mitzuarbeiten, pro Woche eine Sitzung plus "Fraktions"treff.


Außerplanmäßiges: Veranstaltungen aller Art vorbereiten, Redebeiträge verfassen, Ordner bei Demos stellen, Artikel, Berichte und Wandzeitungen schreiben, Hausbesuche im Wahlkampf und danach, Seminarkollektive, Delegiertenkonferenzen, Demonstrationen und Veranstaltungsbesuche obligatorisch.


Natürlich durfte man nur 3 Wochen im Jahr in Urlaub fahren nicht ohne zum Urlaubsort Propagandamaterial mitzunehmen und dort zu vertreiben.


Eigentlich war man mindestens 40 Stunden in der Woche für die Organisation auf den Beinen, und das als Mitglied einer Massenorganisation.


Der zeitliche Aufwand allein spiegelt jedoch noch nicht das erschreckende Maß der Vereinnahmung durch die KHG wider. Ein genaueres Bild ergibt erst der Inhalt der Tätigkeiten, die Art und Weise, wie diese geplant und innerorganisatorisch vergeben wurden. Kennzeichen für die Inangriffnahme einer neuen Aufgabe war immer, daß sie von höheren Instanzen beschlossen und vorher in der GE nie diskutiert wurde. Die Beschlüsse trugen das Zeichen ihrer Unumstößlichkeit schon bei ihrer Verkündung, denn der "demokratische Zentralismus" verlangt ihre unbedingte Ausführung. Auf inhaltliche Vermittlung wurde kein Wert gelegt, Zustimmung oder Ablehnung hat ja erstmal keine Bedeutung. Damit soll nicht behauptet werden, daß die Beschlüsse nicht begründet wurden. Aber diese Begründungen hoben immer die "objektiven Notwendigkeiten" hervor, nie hingegen die individuellen oder kollektiven Fähigkeiten und Schwierigkeiten, die bei ihrer Durchführung entstehen könnten. Fast jeder Beschluß begann mit den Worten: "Die Lage erfordert..." "Die Klassenkampfsituation zwingt zu..." "Die Weltlage erhöht die Anforderungen an die Kommunisten." Der "subjektive Faktor" wird in der Weise einbezogen, daß stillschweigend von der Fiktion einer kommunistischen Organisation ausgegangen wird, die ex definitionem in der Lage ist "allseitig" und "umfassend" den angeblichen Erfordernissen gemäß zu reagieren - eine blanke Selbsttäuschung, denn ein Beschluß galt z.B. für jede GE in gleicher Weise, egal ob sie groß oder klein war und ohne Rücksicht auf besondere Bedingungen.


Jedes Anzweifeln der neuen Beschlüsse mußte daher gegen die doppelte Autorität der jeweiligen Leitung und der sich aus der angeblichen "Realität" ergebenden "objektiven Notwendigkeiten" ankämpfen. Doch wie soll man die Begründung in Frage stellen, wenn einem selbst nur ein Ausschnitt dieser "Realität" bekannt ist, weil die Verallgemeinerung per Erfahrungen nur vertikal aber nicht horizontal stattfindet? Der Einwand, ein bestimmter Beschluß sei im eigenen Bereich nicht durchführbar, wurde mit dem Hinweis auf die "Realität" anderer Bereiche vernichtet. Insofern stand man den Beschlüssen ohnmächtig gegenüber. Wollte man seinen Ausschluß nicht riskieren, mußte man sich fügen. Man kann dann nur noch versuchen, sich mit irgendwelchen Entschuldigungen um die Lasten einer solchen Politik zu drücken, deren Sinn man nicht einsah. Die Arbeit selbst war aber gekennzeichnet durch andauernden Mißerfolg. Der Aufwand stand in keinem Verhältnis zu den Ergebnissen, die erzielt wurden.


Schließlich macht es die totale Absorption des Einzelnen durch die Organisation unmöglich, anderen Interessen nachzugehen, die einen höheren Grad an Selbstverwirklichung bringen könnte. Man war oft nicht mal mehr in der Lage, ins Kino zu gehen oder andere als die vorgegebene Pflichtlektüre zu lesen. Man konnte sich gerade für den nächsten Einsatz erholen. Die vielfältigen Eindrücke, Anregungen und Erfahrungen, die einem aus der Beschäftigung mit anderen Dingen erwachsen könnten, blieben aus, eine aktive Auseinandersetzung mit anderen Dingen ging verloren oder konnte sich erst gar nicht entwickeln.


Als Student wird nun durch die ständige Arbeit für die Organisation zusehends entrückt, man besuchte Lehrveranstaltungen wenn überhaupt - nur noch, um was anzusagen und politische Diskussionen vom Zaune zu brechen.


Arbeitszusammenhänge oder Gruppen mit anderen, nichtorganisierten Studenten kommen nur selten zustande, die unumgänglichen werden mit minimalstem Aufwand durchgezogen. Anderen Studenten konnte man sich nur noch über abstrakte Phrasen und leeres Geschwafel annähern.


Kommunikation


Zwangsläufig müssen im Zuge der Vereinnahmung durch die Organisation auch Bekanntschaften und engere persönliche Beziehungen verkümmern, die nicht im Organisationsrahmen stattfinden. Mitglieder anderer Organisationen werden zu Gegnern oder Feinden, Nichtorganisierte zu mit Agitation und Propaganda einzudeckendem Material. Da die meisten Organisationen nur mit ihresgleichen persönlich verkehrten, isolierten sie sich „freiwillig", hatten keine Gelegenheit mehr, ihre eigenen Ideen, Theorien und politischen Konzepte mit anderen zu konfrontieren.


Aber auch im Innern des KBW gab es kaum einen Austausch von Ideen und Erfahrungen, oder gar persönliche Gespräche und Kontakte über die Grundeinheit hinaus. Die Beschränkung der Freizeit ließ es gar nicht zu, daß solche Kontakte zustandekamen.


Die einzigen informellen Kommunikationszusammenhänge waren Cliquen, die sich um einzelne angesehene führende Genossinnen und Genossen herum, häufig auch im Umkreis von KBW-Wohngemeinschaften bildeten. In diesen Cliquen fanden sich die Leute zusammen, die ohnehin, mit allem einverstanden waren, was im Verein lief. Hier wurden politische Linien festgelegt, Pöstchen verschoben, Nachwuchs gezogen, auch die neuesten Gerüchte über führende Genossen ausgetauscht.


Einer von uns machte die Erfahrung, daß die Bereitschaft, für die Organisation zu arbeiten, besonders dann stark ausgeprägt war, wenn gerade eine Beziehung in die Brüche gegangen war. In solchen Situationen bietet die in sich fest geschlossene Organisation das trügerische Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Auf unüberbietbare Weise drängt einem die Organisation die Möglichkeit auf, in der Arbeit "aufzugehen", seine Probleme nicht etwa zu lösen, sondern zu kompensieren. In ihr findet man seine trügerische Stabilität.


Ausstieg


Da sich der einzelne in der Organisation nicht zur Wehr setzen kann, bleibt nur noch die Alternative: einzutauchen in den Nebel politischer Umnachtung und totaler Realitätsblindheit, also strammes Mitglied der Organisation zu werden - oder sich auszuklinken. Je mehr sich die KHG verfestigte, je weniger echte Diskussionen möglich waren, um so unwohler fühlten wir uns.


Durch die negativen Erfahrungen in der KHG lernten wir, daß auf die Art und Weise wie diese Organisation wirkte, der Aufbau einer sozialistischen Bewegung nicht laufen kann. Der Austritt war nur Endpunkt einer logischen Entwicklung.


Eine Zeitlang nach unserem Austritt stellten wir uns die Frage, ob wir nicht persönlich versagt hätten und ob wir nicht durch größeren persönlichen Einsatz, durch klügeres taktisches Verhalten die Organisation in der von uns angestrebten Richtung hin hätten ändern können. Heute sind wir sicher, daß dies weder möglich war, noch einen Sinn gehabt hätte. Im Gegenteil, diese anfänglichen Zweifel an unserem eigenen Verhalten, ob "persönliches Verschulden" unsererseits vorlag, weisen auf die noch nach dem Austritt fortdauernde Befangenheit hin, auf ein Weiterdenken in von der KHG gesetzten Kategorien. War doch schon unser Versuch fehlgeschlagen, durch "vorbildliches Verhalten", durch Zuverlässigkeit bei der Ausführung übertragener Aufgaben bei den dogmatischen Genossen Respekt und Anerkennung zu finden.


Wir ließen uns damit ein auf die gegebenen Verhältnisse und erlagen mit der Zeit den Mechanismen der Organisation in einer anderen, aber genauso verzückten Weise wie die Genossen, die mit allem von oben einverstanden waren. Die hatten Angst, als kleinbürgerliche Zurückweichler entlarvt zu werden, uns beschlich beim "Zurückweichen" vor politischen Aufgaben das schlechte Gewissen, unserem eigenen Anspruch als "zuverlässige Genossen" nicht entsprochen und deshalb unsere Meinung nicht durchgesetzt zu haben. Wir wurden damit doch wieder hinterrücks in die organisatorischen Mechanismen der Sekte gebannt.


Heute meinen wir, daß diese Organisationen nicht etwa an sich richtige theoretische Vorstellungen in falscher Weise praktisch umsetzen. Ihre Praxis ist vielmehr die Umsetzung des Marxismus-Leninismus. In diesem Sinne können wir sagen, daß die Erfahrungen in der KHG uns vom Marxismus-Leninismus abgebracht haben. Wir suchen nach gangbaren Alternativen einer sozialistischen Theorie und einer sozialistischen Organisierung.


Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 50, Rotbuch Verlag Berlin 1977