Mittwoch, 27. Juni 2012

Entstalinisierung

Entstalinisierung
Wikipedia
Der Begriff Entstalinisierung steht für eine Reihe von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen seitens der sowjetischen Staats- und Parteiführung. Ziel war es, die staatlich ausgeübte Gewalt einzuschränken, die Konsumwirtschaft zu fördern und Raum für Ambivalenzen in Partei und Kultur zu schaffen. Die Reformen begannen unmittelbar nach dem Tod Josef Stalins 1953, intensivierten sich unter Nikita Chruschtschow und wirkten teilweise bis zur Auflösung der Sowjetunion nach.

Inhaltsverzeichnis
Die „stille Entstalinisierung“ 1953-1956: Vom Tode Stalins bis zur „Geheimrede“ Nikita Chruschtschows
Der Beginn der offenen Entstalinisierung: Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag 1956
Der Aufbruch in Kunst und Literatur: Das kulturelle „Tauwetter“
Konsumgüter statt Schwerindustrie – die Entstalinisierung der sowjetischen Wirtschaft
Die Rückführung der Gewalt: Reformen im Strafvollzug und partielle Öffnung der Lager
Der XXII. Parteitag von 1961 – Der eigentliche Entstalinisierungsparteitag?
Ende der Entstalinisierung

Die „stille Entstalinisierung“ 1953-1956: Vom Tode Stalins bis zur „Geheimrede“ Nikita Chruschtschows

Erste Maßnahmen der Entstalinisierung leitete der sowjetische Innenminister Lawrentij Berija drei Wochen nach Stalins Tod ein. Er verbot Misshandlungen während der Untersuchungshaft, rehabilitierte die Kreml-Ärzte, die unmittelbar vor Stalins Tod einer politischen Verschwörung bezichtigt worden waren, stärkte die nationalen Kader in den Teilrepubliken und stellte die Arbeit des Ausschusses für konterrevolutionäre Verbrechen, eines der zentralen staatlichen Repressionsorgane, ein. Am bedeutendsten war jedoch wohl die Entlassung von etwa 1,2 Mio. Lagerinsassen. Allerdings galt diese Amnestie nur für Häftlinge, die eine Strafe von weniger als fünf Jahren verbüßten. Damit waren politisch Verfolgte von dieser Maßnahme ausgenommen. Im Zuge der Lockerung des Strafvollzugs kam es seit 1953 verstärkt zu Lageraufständen, die sich gegen die weiterhin schlechten Haftbedingungen richteten.

Die Jahre vom Tode Stalins bis zur „Geheimrede“ Chruschtschows bezeichnet man auch als „stille Entstalinisierung“, da eine Abkehr von der bisherigen Politik zwar teilweise vollzogen, jedoch noch nicht offen proklamiert wurde. In dieser Zeit war auch die Nachfolge Stalins nicht eindeutig geregelt. Zunächst trat eine kollektive Führung an die Spitze des Staates, die Berija aus Furcht vor dem mächtigen Geheimdienstchef bald stürzte und hinrichten ließ. In den folgenden Diadochenkämpfen setzte sich schließlich Chruschtschow durch geschicktes Taktieren und mit Hilfe des von ihm weitgehend kontrollierten Parteiapparats gegen seine Rivalen um die Macht durch. Zur politischen Legitimation seiner Herrschaft emanzipierte er sich gezielt von Stalin, obwohl er, wie die gesamte Führungsriege des Landes, zu Lebzeiten zu dessen engsten Vertrauten gezählt hatte und an den Verbrechen des Regimes beteiligt gewesen war.

Der Beginn der offenen Entstalinisierung: Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag 1956

Auf dem XX. Parteitag der KPdSU hielt Chruschtschow in einer geschlossenen Sitzung am 25. Februar 1956 eine Rede, in der er den „Personenkult“ um Stalin, dessen Machtmissbrauch und die staatlichen Repressionen gegen Parteifunktionäre kritisierte. Die Macht der Partei basiere nicht auf einer Person, so Chruschtschow, sondern auf dem „unverbrüchlichen Bund mit den Massen“. Außerdem forderte er eine Wiederbesinnung auf die Lehren Lenins und die damit verbundene Rückkehr zum Prinzip der kollektiven Führung: Kollektivität sei „das führende Prinzip der Leitung der Partei“. Keine Erwähnung in dieser Rede fanden hingegen der Terror gegen die breite Bevölkerung und die politischen „Säuberungen“ vor 1934.

Somit kritisierte Chruschtschow zwar Stalin persönlich, nicht jedoch grundlegende Strukturen des stalinistischen Systems. Trotz des Postulats der Geheimhaltung wurde die Rede an lokale Parteiinstanzen und kommunistische Parteien im Ausland versandt und bereits am 4. Juni 1956 in den USA veröffentlicht.

Der Aufbruch in Kunst und Literatur: Das kulturelle „Tauwetter“

Das literarische Schaffen der sowjetischen Autoren während der Stalin-Ära war geprägt durch die totale Vereinnahmung der Literatur durch die Kommunistische Partei. Die Kunststilrichtung des Sozialistischen Realismus galt als Maßstab, an dem sich jeder Künstler messen lassen musste. 1954 erschien Ilja Ehrenburgs Roman „Tauwetter“. Anstatt wie bisher üblich ein durchweg positives Bild von der Sowjetunion zu zeichnen, erzählt Ehrenburg eine Geschichte über sowjetische Durchschnittsmenschen und nimmt gleichzeitig eine psychologische Analyse seiner Protagonisten vor. Damit wurde der Roman zu einem Symbol der neuen künstlerischen Möglichkeiten, und sein Titel etablierte sich auch außerhalb der Literatur als Epochenbegriff: „Tauwetter“ stand fortan metaphorisch für den Prozess eines langsamen Auftauens einer durch strenge Direktiven und staatlichen Terror erstarrten Gesellschaft.

Die „Tauwetter-Literatur“ kritisierte insbesondere die so genannte „Produktions- und Kolchosenliteratur“ mit ihren stereotypen Helden, den Handlungsklischees und der konfliktfreien Atmosphäre. Sie stellten darüber hinaus die moderne Fortschrittsgläubigkeit in der Sowjetunion sowie die Verhaltensmechanismen der KPdSU infrage und forderten Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit in der Literatur. Allerdings gab es auch zur Zeit des „Tauwetters“ Grenzen, die von der Literatur nicht überschritten werden durften. So kam es weiterhin, wenn nun auch in eingeschränkter Form, zu Publikationsverboten und staatlichen Repressalien gegen Schriftsteller. Das berühmteste Beispiel hierfür bildet der Roman Doktor Schiwago von Boris Pasternak, der für dieses Werk 1958 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Wegen der im Roman vorgetragenen Kritik am Marxismus-Leninismus und Bolschewismus, aber auch aufgrund der politischen Instrumentalisierung des Werks durch den Westen wurde der Druck des Romans in der Sowjetunion verboten und der Autor einer Hetzkampagne in der sowjetischen Presse ausgesetzt.

Die neuen Freiräume führten gleichzeitig zu einer kritischen Aufarbeitung des Stalinismus. So befürwortete Chruschtschow 1962 persönlich das Erscheinen von Alexander Issajewitsch Solschenizyns Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, in der Solschenizyn, selbst ehemaliger Häftling, die Grausamkeiten des sowjetischen Lagerlebens eindrucksvoll schilderte.

Für die Musik bedeutete die Entstalinisierung eine Lockerung der 1948 vom ZK der KPdSU geforderten Volksnähe der Kunst. Der unter Stalin einerseits für seinen Modernismus verfemte und andererseits aufgrund seiner internationalen Erfolge gefeierte Komponist Dmitrij Schostakowitsch erlebte eine Art inoffizielle Rehabilitierung und wurde 1957 zum Sekretär des Komponistenverbandes gewählt. Tendenzen der westlichen Avantgarde wie Zwölftonmusik oder Serielle Musik fanden dennoch keine Akzeptanz, vielmehr beschäftige sich der Komponistenverband in den Folgejahren mit dodekaphonen Versuchen beispielsweise von Alfred Schnittke oder Andrej Wolkonski. Mit dem Sturz Chruschtschows im Jahre 1964 endete auch die Politik der dosierten Freiräume für die Künstler der Sowjetunion und die „Tauwetterliteratur“ verschwand in der Breschnew-Ära.

Konsumgüter statt Schwerindustrie – die Entstalinisierung der sowjetischen Wirtschaft

Nach Stalins Tod stand insbesondere die Wirtschaft vor großen Herausforderungen, da jahrzehntelang einzig die Schwerindustrie zu Lasten von Landwirtschaft und Konsumgüterproduktion vorangetrieben worden war. Verzicht und Zurückhaltung waren der Bevölkerung immer weniger zu vermitteln, weshalb bereits 1952 die ersten Schritte zur Neuordnung der Prioritäten unternommen wurden. Da allerdings die Rüstungs- und Raumfahrtindustrie, die zeitweise bis zu 30% der Staatsausgaben für sich beanspruchten, für das Kräftegleichgewicht mit den USA unverzichtbar waren, konnten die Investitionen nicht reduziert werden. Die Weiterentwicklung der Schwerindustrie blieb deshalb wesentlicher Bestandteil der sowjetischen Wirtschaftspolitik.

Bestrebungen zur Effizienzsteigerung, die zumindest das Budget zugunsten der anderen Wirtschaftszweige entlasten sollten – wie eine massive Dezentralisierung und Regionalisierung sowie der Abbau der bürokratischen Planungsapparate – scheiterten zu guter Letzt am allgemeinen Desinteresse, grundsätzliche planwirtschaftliche Defizite zu reformieren. Die Neuerungen wurden deshalb teilweise schon von Chruschtschow, endgültig aber nach dessen Sturz wieder revidiert.

Dennoch kam es im Bereich der Konsumgüterindustrie zu einer schrittweisen Steigerung des Produktionsvolumens, welches jedoch kaum mit dem seit Mitte der 1950er Jahre rasch anwachsenden Bedarf der sowjetischen Bevölkerung Schritt halten konnte. Eine wichtige Ausnahme bildete hierbei der staatliche Wohnungsbau, dem unter Chruschtschow besondere Bedeutung beigemessen wurde. Dieser führte zu einer sichtbaren Verbesserung der v. a. seit dem Zweiten Weltkrieg außerordentlich angespannten Wohnungssituation in der UdSSR. Die quantitative Erhöhung des Wohnungsbestandes und der Konsumgüterproduktion ging allerdings nach wie vor mit Qualitätsmängeln einher. Die Maßnahmen können daher lediglich in ihren Ansätzen als erfolgreich gewertet werden, da sie die Defizite der für eine Planwirtschaft symptomatischen Schwächen nicht überwinden konnten.

In der Landwirtschaft strebte Chruschtschow danach, die Agrarproduktion durch eine Ausweitung der Anbauflächen zu erhöhen. Die Steppen an der unteren Wolga, im nördlichen Kasachstan und im westlichen Sibirien sollten für den Ackerbau fruchtbar gemacht werden. Die staatlichen Kampagnen zur Gewinnung von Neuland unterschieden sich in ihrem Wesen kaum von der Mobilisierung der Massen unter Stalin. Während die Neuland-Kampagne zumindest vorübergehende Erfolge erzielen konnte, scheitere der Versuch des Maisanbaus vor allem aus klimatischen Gründen.

Die Rückführung der Gewalt: Reformen im Strafvollzug und partielle Öffnung der Lager

Nur wenige Monate nach der „Geheimrede“ Chruschtschows auf dem XX. Parteitag wurde der GULag als Hauptverwaltung des stalinistischen Lagersystems aufgelöst und die verbleibenden Lager verschiedenen anderen Dienststellen unterstellt. Nach offiziellen sowjetischen Angaben erfolgte daneben bis Mai 1957 die Entlassung von 70 % der Lagerinsassen von 1953 aus der Haft. Die Zahl der Lager verringerte sich deutlich und auch die Haftbedingungen verbesserten sich. Dennoch blieb die Institution des Lagersystems als Strafvollzugssystem bis zum Ende der Sowjetunion bestehen.

Weiterhin verschwanden, wenngleich auch in deutlich geringerer Zahl als unter Stalin, potentielle und vermeintliche Gegner der Staatsmacht in den Lagern. Letztere dienten damit weiterhin, wenn auch in abgeschwächter Form, der Unterdrückung und Disziplinierung der Bevölkerung. Eine weitere grundlegende Funktion verlor das Lagersystem indes nahezu vollständig: Von 1929 bis 1953 sollte die Arbeitskraft der Häftlinge für die Staatswirtschaft gewinnbringend genutzt werden. Als Zwangsarbeiter wirkten die Häftlinge des GULag jahrzehntelang an der Industrialisierung der Sowjetunion mit. Nachdem diese vollzogen war, zeigte sich in den 1950er Jahren jedoch immer mehr, dass die Sowjetunion nun nicht mehr die massive Arbeitskraft schlecht ausgebildeter und nach kurzer Zeit entkräfteter Zwangsarbeiter, sondern die von qualifizierten und motivierten Facharbeitern benötigte.

Auf Grund der offenkundig gewordenen ökonomischen Ineffektivität der Häftlingsarbeit im Rahmen der auf Dezentralisierung abzielenden neuen Wirtschaftspolitik unter Chruschtschow endete damit die unter Stalin aufgebaute Funktion des GULag als wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Sowjetunion. Hierin dürfte ein wesentlicher Grund für die Entlassung des Millionenheeres unfreier Lagerzwangsarbeiter nach 1953 gelegen haben.

Der XXII. Parteitag von 1961 – Der eigentliche Entstalinisierungsparteitag?

Obwohl auf dem XXII. Parteitag im Herbst 1961 die Verabschiedung des neuen Parteiprogramms im Mittelpunkt stehen sollte, setzte Chruschtschow zur Überraschung der Delegierten die Entstalinisierung erneut auf die Tagesordnung, um das Verhalten und die Machenschaften der „parteifeindlichen“ Gruppe um Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow öffentlich anzuprangern, auch wenn diese bereits 1957 entmachtet worden war. In zahlreichen Reden wurde die „parteifeindliche“ Gruppe der Beteiligung an den Verbrechen Stalins beschuldigt und deren Ausschluss aus der Partei sowie die Einleitung strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen gefordert. Auf Beschluss des Parteitages wurde Stalins Name aus der sowjetischen Öffentlichkeit getilgt, was nicht nur die Umbenennung zahlreicher nach ihm benannter Städte und Straßen zur Folge hatte, sondern auch mit der Entfernung seines Leichnams aus dem Lenin-Mausoleum einherging.

Durch den erneuten Rückgriff auf die Entstalinisierung versuchte Chruschtschow seine geschwächte Machtposition gegenüber seinen innerparteilichen Gegnern wieder zu festigen.

Ende der Entstalinisierung

Chruschtschow wurde 1964 aufgrund des verlorenen Rückhalts innerhalb des Zentralkomitees abgesetzt. Enttäuschte Hoffnungen in der Wirtschaftspolitik, eine Konzentration der Macht in der Hand eines Einzelnen und eine Reihe strittiger außenpolitischer Entscheidungen hatten zum Machtverlust geführt. Als Nachfolger trat Leonid Breschnew die Position des Ersten Sekretärs des ZKs der KPdSU an.

Unter der neuen Führung wurden keine weiteren Maßnahmen einer aktiven Entstalinisierungspolitik mehr ergriffen, man orientierte sich stattdessen wieder an den Prinzipien und Traditionen des Stalinismus, deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch vom so genannten Neostalinismus. Als symptomatisch für die Übergangszeit von der Entstalinisierung zur Neuausrichtung kann der Fall des Historikers Alexander Nekritsch gelten. Er kritisierte 1965 in seinem Buch „22. Juni 1941“ Stalins Versäumnisse am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion und befand sich damit weitgehend auf dem Boden der Kritik, die Chruschtschow bereits in seiner Geheimrede an Stalin geübt hatte. Obwohl Nekritschs Darstellung auf große Zustimmung stieß, kam das Buch 1967 auf den Index. Darüber hinaus wurde Nekritsch der Grundlage seiner wissenschaftlichen Lehr- und Forschungstätigkeit beraubt, so dass er 1971 schließlich in die USA emigrierte.