Samstag, 30. Juni 2012

Wir waren die stärksten der Parteien

Werbegraphik aus der Kämpfenden Jugend von 76. 
Hier wurde ein Demofoto ungerastert im Offsetdruck zur
Bildgraphik. Heute erledigt man das mit der Bildbearbeitung, 
zu der Zeit war das noch drucktechnisch bedingt. 
Als Vorlage diente ein typisches Agitationsfoto dieser Zeit.
Der Parteibeamte

Eine Szene an der FU Berlin: Nach einem go-in zum Präsidialamt treffen sich die Studenten in der Cafeteria. Kurz wird besprochen, welche weiteren Schritte unternommen werden sollen. Treffpunkte werden bekanntgegeben, man unterhält sich, trinkt Kaffee: gemeinsame Entspannung nach der Aktion. Plötzlich tritt ein selbstbewußter Mann vor die Versammelten. Das Jackett seines Tweedanzugs auseinandergeschlagen, die Fäuste in die Hüften gestemmt, die Beine gespreizt, als wolle er Wurzeln schlagen: keiner soll ihn wegkriegen. Mit ungewöhnlich lauter Stimme verkündet er, er spreche im Namen des Kommunistischen Studentenverbandes. Das tut er dann auch eine Viertelstunde lang. Der Inhalt seiner Rede hat außer einigen einleitenden Sätzen nichts mit der Aktion zu tun: er berichtet von der Gefährlichkeit des Sozialimperialismus und seiner Agenturen, jongliert mit Zahlen, Zitaten und Ereignissen. Er gebraucht rhetorische Techniken, wie man sie von Parlamentsdebatten her kennt. Er stellt nichts zur Diskussion, breitet nur seine Überzeugung aus. Belohnt wird er durch dünnen Beifall seiner Genossen. Die Konkurrenz vom KBW sieht sich herausgefordert, sagt auch was. Die Angegriffenen, die ADSen, sind ohnehin nicht anwesend. Die Studenten, die alles über sich ergehen ließen, fliehen in verschiedene Richtungen. Diskussion und Versammlung sind beendet. Der Redner zieht mit seiner Gefolgschaft in einen leerstehenden Seminarraum, zu einem Termin - intern.


Der, der da im Namen des KSV sprach, war ein Kader in leitender Position. Solche Auftritte sind für ihn zur Routine geworden. Heute redet er bei den Germanisten, morgen bei den Psychologen, übermorgen vielleicht in Westdeutschland. Dazwischen bewältigt er eine ungeheure Menge von Sitzungen, führt Gespräche, liest Protokolle, schreibt Protokolle, organisiert Einsätze, liest Direktiven, schreibt Direktiven - sein Wasser ist die Politik, darin schwimmt er wie ein Fisch, fern von den trockenen Ufern des Alltags: ein Professional, ein Berufspolitiker also.


Als Typ ist er mir heute fremd und doch vertraut. Denn ich war selber mal ein linker Berufspolitiker an der Hochschule, kommunistischer Kader. Wie kam das?


Als ich endlich aus der verhaßten Schule raus war und an der Uni die große Freiheit zu genießen hoffte, merkte ich bald, daß dort das gleiche öde Räderwerk von Anpassung und Karrieremachen funktionierte, das die Einzelnen in isolierende Konkurrenz treibt. Die Studentenbewegung kam wie ein Befreiungsschlag, Konkurrenz und Isolation wurden stellenweise durchbrochen, uns in Haufen zusammenrottend wurde alles diskutiert, hinterfragt. Wenn wir ausschwärmten, vertraten wir nicht eine Sache, sondern uns selbst und unser Bedürfnis zu verändern. Als am Ende der Bewegung die Geschichte der großen Opposition der Arbeiterbewegung, ihre Erfahrungen und Theorien breit rezipiert wurden, lernten wir, daß allein eine Bewegung von Intellektuellen die Gesellschaft nicht ändern kann. Die Arbeiterbewegung, mit der wir uns hätten verbünden können, war nicht vorhanden. Also fanden Parteigründungen statt, um die Organisationen zu schaffen, die eine revolutionäre Arbeiterbewegung wieder aufbauen konnte. Die Gründer waren natürlich fast durchweg ehemalige Aktivisten der Studentenbewegung. Und sie repräsentierten natürlich nicht die Arbeiterklasse, sondern bloß sich selbstund ihren erschlichenen Avantgarde-Anspruch. Auch an der Uni war man als Kader nicht mehr Teil der Massen, sondern für Führer, denn man repräsentierte "die Arbeiterklasse" unter den Studenten. Als Kader war man nicht mehr Student, man war Kommunist. Dieser hohe Anspruch mußte eine materielle Basis kriegen, damit die Avantgarde ihre Überzeugung nicht verliert. Er verwirklichte sich in Form unzähliger Zusammenkünfte, auf denen "die Linie" auf die Wirklichkeit aufgesetzt wurde. Da jeder Kader auf allen möglichen Ebenen zu tun hatte, ergab dies eine Unmenge von "Terminen".


Als ich im KSV aufgenommen wurde, hatte ich das wichtigste Requisit des Kaders bereits kennengelernt: den Terminkalender. Als ich entschlossen war auszutreten, schob ich das Ding mit Genuß in den Ofen: ich hatte es hassen gelernt wie mein Schulmäppchen. Als kleines Licht in der Organisation hatte ich ein, zwei Termine am Tag gehabt. Wochenende frei. Das änderte sich jedoch im Laufe meiner "Qualifizierung" und mit dem Anwachsen des KSV. Mit der Übernahme größerer Verantwortlichkeiten kam auch ein Rattenschwanz von Terminen und Nebenterminen. In "Kampfzeiten" konnte der Terminkalender den Terminwust nur bei äußerst sparsamer Ausfüllung des Raumes aufnehmen.


Bei soviel Hektik gewöhnt man sich Routine an. Man achtet darauf, daß Diskussionen den Rahmen des vorgeplanten Tagesablaufs nicht sprengen, zieht das politisch wesentlich Erscheinende durch, organisiert schnell, redet nicht lange mit den andern. Widersprüche werden erst mal abgewiegelt: als "Nebenwidersprüche". Erst wenn sie sich zu "Hauptwidersprüchen" ausgewachsen haben, beraumt man einen Gesprächstermin an. Die Aufgaben werden pflichtgemäß erledigt, weil kein Raum ist für spontane Initiative, vor allem keine Zeit. Diese routinierte Bewältigung der politischen Arbeit schafft eine spezifische Form der Wahrnehmung, die der Beamtenmentalität sehr ähnlich ist.


Aber das ist kein Wunder: Nicht mehr man selbst sein, sondern etwas "Höheres" repräsentieren, sich als funktionierenden Teil eines Apparats verstehen, das Ganze im Rahmen des Kleinbürgertums und dann auch noch in Deutschland - da muß ja der Beamte herauskommen!


Die meisten Kader-Zellen rekrutierten sich auf der Basis des Cliquenwesens. Mit der Blüte der Verbeamtung, die dazu führte, daß sich die Einzelnen immer weniger kannten, entwickelte sich ein Ritual des Kennenlernens: die etwa halbjährlich stattfindende "Ka-Es-Ka" (Kritik/Selbstkritik)-Diskussion, auf der es Näheres über den unbekannten Mitkader zu erfahren gab. Da gab es zwei Verfahrensweisen: Entweder hatte der Delinquent Glück, dann wurde über seine politische Arbeit gesprochen, hierzu Passendes aus dem Privatleben lobend erwähnt. Das hatte den Charakter von Konfirmation oder Ordensvergabe - Weihrauch eingeschlossen. Oder er hatte Pech: Aggressionen entluden sich in Unterstellungen, inquisitorisch und auf schmerzende Wirkung abzielend. Dann war das Ganze wie eine Demontage, auch in der Intimsphäre wurde Unpassendes entdeckt - der Bedauernswerte wurde geknetet, bis er für jede Reue weich war. Manche suchten diese Demontage zu unterlaufen, indem sie gleich alles herauskotzten was ihnen auf der Seele lag. Meist waren dann die Mitkader verunsichert, zogen vorsichtig Schubladen auf, um die Probleme des Betreffenden unterzubringen.


So war das Ganze verkrampft, ritualisiert, fruchtbarer Boden für Doppelmoral aller Art. Unfähig, die Beziehungen solidarisch zu gestalten, weil Solidarität nur als Solidarität mit politischen Ansichten, aber nicht mit Individuen verstanden wurde, wurden die Bedürfnisse der Einzelnen mißachtet, sprachlos in den Untergrund bürgerlicher Privatheit abgedrängt. Gab es im Kader-Alltag ein Ventil, eine Möglichkeit, sich Luft zu machen, spontane Kritik zu äußern? Der alltägliche Frust entlud sich vor allem in der Feindschaft mit den andern, den Konkurrenten, Agenten und Drahtziehern - bis auf einen Kanal, der nicht organisierbar, nicht registrierbar war, dafür aber umso reichlicher floß: der Tratsch. Verarmt in der Erlebnissphäre des Normalalltags konzentrierten sich die Feierabend­ und Pausengespräche vor allem auf die Skandale, Abweichungen, Fehlhandlungen, den Privat- und Bettbereich der oberen Kader. Dieser Kader-Tratsch unter der Beamten-Gürtellinie trug, genau die Merkmale geduckter und krummer Opposition, auf der der Erfolg der Sensationspresse aufbaut: dem Bedürfnis, hinter dem entfremdeten Vorgang der Politik die Subjekte sichtbar zu machen, sie in den Bereich des Bekannten zu holen, sie zu "vermenschlichen" - und damit kritisierbar zu machen.


Der Organisation konnte das Privatleben ihrer Kader vor allem unter zwei Aspekten nicht gleichgültig sein. 1. Wie kann die Arbeitsproduktivität des Einzelnen voll ausgeschöpft werden? 2. Welche dieses Ziel störenden Einflüsse sind auszuschalten? Das führte dazu, daß sich verkaderte Mitbewohner oft in Denunzianten verwandelten: der Genosse habe den halben Tag im Bett gelegen, sei auf ein kleinbürgerliches Fest gegangen, hätte vor dem Fernseher gesessen - anstatt Wache zu schieben, das Protokoll zu schreiben, auf der Veranstaltung anwesend zu sein. In Kader-Wohngemeinschaften verständigte man sich entweder augenzwinkernd auf der Ebene der Doppelmoral oder man lebte wie in einer Polizeikaserne, immer überwacht und auf Rechtfertigung jeder Handlung trainiert. Manche Genossen entwickelten in solchen Situationen artistische Fähigkeiten: sie jumpten, im Halbschlaf auf dem Bett liegend, zum Schreibtisch, um pausenloses Arbeiten vorzutäuschen, wenn sich ein Mitbewohner dem Zimmer näherte.


Am Tag nach dem faschistischen Putsch in Chile hatten wir abends Zellensitzung. Ich war sehr aufgebracht, weil noch nichts von uns geschehen war und schlug vor, die vorgesehene Tagesordnung sausen zu lassen, um zu überlegen, was wir tun könnten. Die Folge dieser Unbotmäßigkeit war eine Belehrung über kommunistische Disziplin, demokratischen Zentralismus und die Wichtigkeit der Tagesordnung (die nur Hochschulpolitisches und den üblichen Routinekram enthielt). Als schließlich Chile kurz zur Diskussion stand, wurde die Entfachung einer Kampagne vorgeschlagen. Ein Zellengenosse, führend in der antiimperialistischen Massenorganisation tätig und daher Repräsentant des Proletarischen Internationalismus, sagte dazu etwa folgendes: Sicher, es sei schrecklich, was da in Chile geschehe. Aber als Marxist müsse man sehen, daß die Konterrevolution überall zuschlage und im übrigen gelte es, den beschlossenen Kampagnenfahrplan durchzuziehen, der nun mal hauptsächlich Oman und Dhofar und Kambodscha vorsehe.


Am erschreckendsten war dabei der bürokratische Habitus, seine beamtete Abgebrühtheit, die den Verlust emotionaler Empörung mit sich bringt. Leute wie er, die sich zum Wutanfall über Nebensächlichkeiten wie z.B. das Verhalten anderer Organisationen steigern konnten, reagierten angesichts der faschistischen Barbarei mit kühler Beamtenroutine. Auch auf mich traf das zu: Gewiß, ich war empört, aber ein Großteil meiner Empörung richtete sich dagegen, daß unsere Organisationen die "günstige Situation" nicht ausnutzten, sich nicht "an die Spitze" der Solidaritätsbewegung stellten, indem sie die Initiative ergriffen. Diese zynische Berufspolitikerhaltung resultierte auch aus der Antipathie, die wir gegen die als revisionistisch verseucht angesehene Allende-Regierung hegten. Der Verdacht liegt jedoch nah, daß mit diesem Beamtenverhalten vor allem Herrschaftsbedürfnisse befriedigt werden.


Betrachtet man die Entwicklung des KSV, so kann man die Entstehung von Elementen eines Staatsapparats verfolgen, deren Charakter nicht wesentlich sich vom gewohnten Bild solcher Institutionen unterscheidet: Nichtöffentlichkeit von Gremien (untere Chargen haben auf Sitzungen höherer Funktionäre nichts zu suchen), Finanz- und Personalabteilung, die zu bestimmten Sprechzeiten geöffnet haben und zu denen man hinzitiert wird, Wachund Sekretärsdienste (Innendienst), Agitpropdienst (Außendienst) für die beamteten Kader u.a. Mit dem Anwachsen des KSV begann dieser Verwaltungsapparat ("typisch deutsch" in seinem Perfektionismus und in der kalten Wut seiner Sachwalter) mehr und mehr anzuschwellen, die Arbeitszeit der Kader verschlingend. Nicht nur, daß sich Unmengen beschriebenen Papiers durch die Instanzen der Organisation wälzten, auch der Ausstoß nach außen war enorm. Es war durchaus keine Seltenheit, wenn ein Tagestrupp fünf oder mehr Flugblätter zu verteilen hatte. Kein Wunder, daß sich riesige Stapel nicht verteilter Aufrufe in den Räumen des KSV häuften. Dazwischen bewegten sich die Sekretäre und leitenden Kader, die man als Personen schon gar nicht mehr wahrnahm, so sehr waren sie bereits zum Inventar geworden. Einige Genossen schienen aus ihren Kunstlichträumen überhaupt nicht mehr herauszukommen, ihre Gesichtsfarbe war grau wie ihr Beamtenalltag. Für einfache Kader war das Betreten solcher Räumlichkeiten immer ein gewagtes Unternehmen: ständig mußte man gewärtig sein, von einem plötzlich aus einer Tapetentür tretenden Oberfunktionär zu irgendeinem Zusatzdienst verdonnert zu werden. Nur der notariell beglaubigte Nachweis eines wichtigen anderen Termins konnte einen retten.


Die Beamten- und Repräsentantenmentalität der Kader führte zu skurrilen Erscheinungen. So wurde es Mode, sich statt einer Aktentasche ein schwarzes Diplomaten-Köfferchen zuzulegen und prall gefüllt mit sich herumzutragen. Solch ein Kader-Set enthielt neben grundlegenden Dokumenten von KPD, KSV und Bruderparteien, aktuelle hauseigene Schriften, Protokolle und wichtige Aufzeichnungen, gegnerische Flugblätter und andere nützliche Dinge. Bei Sitzungen wurde der Koffer geöffnet, ein Großteil des Inhalts turmartik aufgeschichtet, um nach der Sitzung wieder verpackt zu werden. In einer Wohnung erkannte man ein Kader-Zimmer an der langen Reihe von Aktenordnern, die meist ziemlich alles Gedruckte des Organisationstrust enthielten.


Die schöne Sitte, die die KPD mit ihrem Parteitag einführte, ihre Kader mit dem goldenen, verdiente Sympathisanten mit dem silbernen Parteiabzeichen zu schmücken, machte es den KSV-Kadern leicht, bei jeweiligen Zusammenkünften auf den ersten Blick die Rangordnung der Anwesenden abzuschätzen. Mit der Ausgabevon em blernverzierten Spendenbüchern gab die KPD auch dem Spendenvorgang, bis dahin ein eher nüchterner Vorgang, etwas Weihevolles. Ein Kader der Zelle erhielt die Aufgabe, Spendenmarken auszuschneiden und sie in die Spend enbücher der übrigen Zellenmitglieder einzukleben. Ein Zellengenosse meiner Zelle war während der Sitzungen mit dieser Aufgabe stundenlang und akribisch beschäftigt. Ich beobachtete, wie sehr ihm das genaue Plazieren der Marken ins Rabattbuch Spaß machte. War er fertig, so ging er alles nochmal durch; wenn alles seine Ordnung hatte, plazierte er die akkurat gestapelten Rabattbücher vor sich auf den Tisch, um sie am Ende der Sitzung an die einzelnen Genossinnen und Genossen auszuteilen.


Glanzlichter und Höhepunkte des verkaderten Beamtentums bildeten die Tätigkeiten der "Ausrichter". Ein Ausrichter war ein höherer Kader, der von oben in eine Zelle geschickt wurde, um diese im Sinn der höheren Ebene politisch auf Vordermann zu bringen, sie "auszurichten". Unsere Zelle, die sich durch Kritik nach oben hervorgetan hatte, verdächtigerweise auch noch eine sehr große Massenbasis am Fachbereich besaß, geriet schnell in den Geruch des "Rechtsopportunismus". So saß er also eines Abends unter uns, im grauen Anzug, mit rosa Hemd und modischer Krawatte: unser Ausrichter. Einige kannten ihn zwar vom Sehen, man wußte, daß er irgendwann in eine höhere Etage aufgestiegen war - von ihm selbst wußte man nichts und er ließ es dabei. Seine Aufgabe sah er darin, nach einiger Zeit die ideologische Hauptfrage in die Diskussion zu bringen: Wie steht dein Vorschlag zur Arbeiterklasse und ihrer Partei? Wie stehst du selbst zur Arbeiterklasse und ihrer Partei? Was tust du für die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei? Dabei setzte er sich bequem, machte sich breit, stellte den Kamm auf wie ein Hahn im Revier, kritisierte ziemlich unflätig manche Genossen, die sich aufopferten und weit mehr taten als er. Doch alle duckten sich, verpflichteten sich zu Gehorsam. Wir schrieben ein neues, kleines Kapitel der deutschen Misere - keiner warf ihn hinaus. Als er im Windschatten einer Generalausrichtung des Gesamtverbandes seine Tätigkeit beendet und die Hälfte der Sympathisanten weggegrault hatte, bekundete er nur noch kurze Zeit seine entschiedene Haltung für Arbeiterklasse und Partei: plötzlich war er weggetaucht, trat aus dem KSV aus und schlug vermutlich eine richtige Beamtenlaufbahn ein, für die er so fleißig geübt hatte.


Der Verwaltungs- und Agitationsapparat produzierte einen unversiegbaren Flugblattregen, der wie ein unaufhörliches Gebrabbel auf die Leute herniederging. Überlegungen wurden angestellt, wie diese Monotonie durch besondere Effekte durchbrochen werden könne, vor allem, wie man sich angesichts schwindender Sympathie von der Konkurrenz abheben könne. Kurzansprachen, Kurzkundgebungen, Flurversammlungen, Reden, wie anfangs beschrieben, sollten das Interesse wecken. Megaphone wurden eingesetzt, die auch bei absolut nichtigen Anlässen lautstark herumtönten. Kurz, zum Berufspolitiker gesellte sich der lästige Hausierer, der den Fuß zwischen Tür und Angel setzt. Dies führte - kein Wunder - zur entnervten Reaktion der Studenten, die das Zuhören verweigerten.


Als Mitglied eines Agitations-Tagestrupps lernte ich, Studenten während des Mittagessens anzusprechen, mit einem Suppe löffelnden Opfer ein Verkaufsgespräch anzubandeln.


All diese Formen von Massenfeindlichkeit entströmen der Routine des beamteten Berufspolitiker-Alltags. Marx hatte im Kornmunistischen Manifest geschrieben, daß die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter selbst sein kann. Während meiner KSV-Zeit habe ich diesenSatz immer nur so verstanden, daß die Arbeiterklasse die anderen unterdrückten Schichten im Befreiungskampf anführen müsse. Ich habe "Arbeiterklasse" nur immer unter dem Aspekt des Führungsanspruchs wahrgenommen, der real natürlich der der Partei ist. Nicht verstanden wurde und wird der Inhalt des Satzes, wie er gemeint ist: daß Politik Sache der Betroffenen ist und nicht etwas, das an irgendwelche Vertreter oder Repräsentanten delegiert werden kann; Politik ist kein Anspruch, den irgendeine Gruppe für andere wahrnehmen kann. Politik ist keine Sache von Spezialisten, - wer das trotzdem meint, der ist ein bürgerlicher Politiker und bringt die Sache der Unterdrückten und Ausgebeuteten nicht voran. Die Berufung auf Lenin s Partei der Berufsrevolutionäre ist nicht nur historisch sehr fragwürdig, sie versucht auchjenen routinierten Berufspolitiker-Alltag zu rechtfertigen, der in seinem Beamten- und Repräsentantentum weniger den Geist des Marxismus entstammt als vielmehr der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie, in der die Gründer und Mitglieder dieser Vereine groß geworden sind.


Quelle: anonym: Wir warn die stärkste der Partein..., S. 81, Rotbuch Verlag Berlin 1977